Verteidigung des Geschichtenerzählens gegen seine Freunde

Der aktuelle Hype in der Werbebranche trägt einen populären Namen: Geschichten erzählen!

Freilich, das Geschichtenerzählen eignet sich wie kein zweites Mittel für die Zwecke der Werbung. Geschichten sind das machtvollste Mittel der Kommunikation. Das ist allerdings keine Entdeckung der Werbebranche; das war schon immer so und es wird auch auf absehbare Zeit so bleiben. Geschichten besitzen diese konkurrenzlose Wirkungsmacht – ihren USP sozusagen – aufgrund ihrer speziellen Eigenheit, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen wollen.

Doch, zunächst einmal, Liebhaber und Propagandisten des „Geschichtenerzählens“: nur weil etwas mal am Lagerfeuer erzählt worden ist, muss es noch lange keine Geschichte gewesen sein! Es mag wohl vorgekommen sein, dass am Lagerfeuer auch die eine oder andere Geschichte erzählt wurde; aber es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, um zu erkennen, dass am Lagerfeuer auch viel Müll geredet worden ist, dessen Wirkungskraft äusserst bescheiden war. Und mit den modernen Lagerfeuern ist es nicht anders, mit dem Unterschied vielleicht, dass die Menge des Mülls zu- und die Anzahl der Geschichten abgenommen hat, und dies nicht zuletzt dank des segensreichen Wirkens der Werbe- und PR-Strategen.

Der gegenwärtig entfachte Hype um das Geschichtenerzählen ist in Wahrheit nichts anderes als ein Mittel zur Selbstvermarktung der Werber. Ganz nach der Wesensart ihrer Branche wird auch hier versucht, gutgläubigen Menschen ein X für ein U vorzumachen. Man benutzt dabei den guten Namen „Geschichtenerzählen“, um dem Mist, den man macht, einen Adelstitel zu verleihen, so wie es eben werbestrategisch tulich ist, jeden Fusel als „Cognac“ zu bezeichnen, damit sich der Dreck verkaufen lässt. Das Schindluder, das zur Zeit mit dem bedauernswerten Begriff „Geschichtenerzählen“ getrieben wird, ist vor allem eins: Hochstapelei. Man segelt seinen trostlosen Seelenverkäufer zum Schein unter falscher Hoheitsflagge und tut so als sei man ein Kanonenboot.

Dass Geschichtenerzählen Kommunikation in höchster Güte ist, kann von niemandem bestritten werden. Doch wird nicht alles, dem man frech das Label „Geschichte“ anhängt, automatisch zum Erzählen in höchster Qualität.
Denn nicht alles, was erzählt wird, ist eine Geschichte. Geschichten sind ein SONDERFALL des Erzählens.

Was eine Geschichte zu einem Sonderfall des Erzählens macht, ist die spezielle Erzählweise, die dafür Verwendung findet. Es ist eine Erzählweise, die sich von allen anderen Arten des Erzählens GRUNDLEGEND unterscheidet. Die jeweilige Erzählweise – das Erzählmittel also – ergibt sich aus dem Zweck des Erzählens, wie sich immer aus dem Zweck das Mittel ergibt. Der Zweck einer Geschichte besteht darin, eine Idee ERFAHRBAR zu machen. Und eine Idee erfahrbar zu machen ist eine Besonderheit der Kommunikation, ein Spezialfall, und ein Fall von ausserordentlichem kommunikativen Wert. Und eine Idee erfahrbar zu machen, ist auch etwas völlig anderes, als eine Idee verstehbar zu machen. In der Erfahrbarkeit liegt die Überzeugungskraft der Idee, denn schliesslich misst der Mensch nichts so viel Wahrheitsgültigkeit bei wie der eigenen Erfahrung.

Erfahrbarmachung geschieht als die Summe eines inneren Erlebens. Damit dieses Erleben stattfinden und zu einer Erfahrungssumme gebracht werden kann, ist die spezielle Erzählweise, von der hier die Rede ist, das erforderliche Mittel. Sie besteht darin, dass eine Abstraktion von der objektiven Gegebenheit des Erzählmaterials als Ereigniskausalität erzeugt wird. Die gemeinte Erzählweise folgt somit nicht der Logik der Kausalität der Ereignisse, sondern sie folgt der Logik der Kausalität des Wirkungsverlaufs. Das bedeutet: das Material wird zu einer Ordnung gebracht, welche diesen Wirkungsverlauf hervor zu bringen vermag. Einfaches Berichten, Nacherzählen ist für diesen Erzählzweck ebenso ungeeignet wie das Erzählen von Anekdoten, Witzen, Parabeln oder Gleichnissen. Berichte, Nacherzählungen, Anekdoten, Witze, Parabeln oder Gleichnisse sind nämlich keine Geschichten, sondern eben Berichte, Nacherzählungen, Anekdoten, Witze, Parabeln oder Gleichnisse.

Die Erzählweise der Geschichte verlangt vom Erzähler ein besonderes Vermögen, nämlich seinen Ausdruck mithilfe von Formen zu erzielen. Die Erzählweise der Geschichte ist Formsprache und in dieser Eigenschaft unterschieden von allen anderen Arten des Erzählens. Die spezifische Erzählweise der Geschichte macht sie zur Kunstgattung in dem Sinn, dass alle Kunst Formsprache ist. Ihr Kunstcharakter ist es auch, was uns bei Geschichten beglückt, überzeugt und stärkt: die Formsprache gibt Geschichten ihre Erlebens- wie ihre Überzeugungskraft; in der Allgemeingültigkeit ihrer Formsprache verbürgt sich die Geschichte für die Wahrheit ihrer erlebten Beispielhaftigkeit.

Alles zum „Geschichtenerzählen“ zu erklären, nivelliert nicht nur im Ergebnis die Qualität der Kommunikation – ist also auch für die Werbebranche letztlich kontraproduktiv -, sondern verwischt auch den Unterschied zwischen Geistesleistung und Geplapper. Trivialisierung von Geistesvermögen und Profanisierung von Kunst ist Ausdruck kultureller Armut, welche sich darin zugleich verfestigt.

Geschichten sind kultureller Menschheitsbesitz; die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können ist ein hohes menschliches Gut. Die gegenwärtigen Umtriebe der wie Pilze aus dem Boden schiessenden „storyteller“ birgt die Gefahr, dass dieser Menschheitsbesitz bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird. Die Vehemenz, mit der dieser Entwicklung entgegen getreten werden muss, ergibt sich daraus, dass es sich hierbei um weit mehr als ein ästhetisches oder ein brancheninternes Problem handelt, sondern um ein gesellschaftliches, nämlich um nichts weniger als um die Errettung der Geistigkeit als menschlicher Lebens- und Entwicklungsgrundlage.

Rettet das Geschichtenerzählen vor seinen falschen Freunden! Es geht ihnen gar nicht ums Geschichtenerzählen, es geht ihnen um Geld! Wenn der Wein so lange verwässert wird, bis alle vergessen haben, was Wein ist und wie Wein schmeckt, und schliesslich Wasser für Wein halten, dann werden die Panscher es geschafft haben, als Weinhändler angesehen zu werden. Und genau dies scheint die Absicht der „storytelling“-Bewegung zu sein. Es handelt sich hier um eine Art Putschversuch von Weinpanschern, auf deren eigenen Weinbergen nur kümmerliche Dörrtrauben hängen.

„Are we all storytellers?“ No, we are not! Geschichtenerzähler ist nur, wer auch Geschichten erzählt und nicht, wer sein Gerede kurzerhand dazu deklariert. Wer das Geschichtenerzählen liebt, wer es ernst damit meint, das Geschichtenerzählen in sein altes Recht einzusetzen, der tut mit, dass auch in Zukunft Wein Wein bleibt und Wasser Wasser.

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Dieser Artikel entstand im Rahmen einer von Caroline Kliemt initiierten Blog-Parade zum Thema „storytelling in neuen Kontexten“.
Hier der Link zu allen Beiträgen:
http://storify.com/reichweite/blogparade-storytelling-in-neuen-kontexten

2 Gedanken zu “Verteidigung des Geschichtenerzählens gegen seine Freunde

  1. Ich stimme Dir voll und ganz zu, dass Geschichten nicht das Wasser werden sollten, mit dem alle möglichen Branchen ihre mickrigen Ideen bewässern. Meine Haltung gegenüber dem Storytelling (was auch immer „sie“ damit meinen) in neuen Kontexten ist durchaus kritisch.
    Ich versuche gerade, die Blogparade zusammenzufassen. Gar nicht so einfach.
    Beste Grüße, Caroline

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    • Liebe Caroline,
      Deine Initiative zur Blogparade „Are we all storytellers?“ könnte ein wichtiger Anstoss gewesen sein zu einer kritischen und produktiven Auseinandersetzung mit Fragen nach dem guten Erzählen. Zweifel bestehen allerdings, ob die Branche das überhaupt will. In der Filmbranche ist das nicht anders. Auch dort kann man keine Geschichten erzählen, möchte aber auch nicht darüber sprechen. Dabei ist doch das Vermögen, gut zu erzählen, die Grundlage von allem. Und man kann es sogar lernen, auch wenn es nicht ganz so einfach ist, wie man meinen möchte. Offenkundig ist es schwieriger, als sich irgendetwas zusammen zu plappern, das man dann dreist „Geschichte“ nennt.
      Vielleicht kann man mal eine Diskussionsrunde veranstalten zu dieser Frage. Ich wäre da gerne dabei.

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