Irrtum # 6

„Bevor Sie Ihre Geschichte dramatisiert ausdrücken können, müssen Sie vier Dinge bereits wissen: den Schluss, den Anfang, den ersten und den zweiten Plotpoint. Diese vier Elemente sind der strukturelle Grundstock für Ihr Drehbuch. Sie werden ihre gesamte gesamte Story an diesen vier Pfeilern ‚aufhängen‘.“
– Syd Field

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WOP: Nein. Eine Geschichte wird nirgendwo „aufgehängt“. Der Autor des Zitats geht von der Annahme aus, dass der Prozess des Drehbuchschreibens darin besteht, dass es am Beginn eine Geschichte gibt, die geschrieben werden soll. Der Autor unterliegt damit einer folgenschweren Verwechslung. Er kann die Dinge nicht auseinander halten. Er verwechselt eine Geschichte mit einem Stoff.
Ein Stoff ist aber keine Geschichte. Der Stoff liefert lediglich das Material für eine Geschichte. Er ist der Steinbruch, aus dem der Marmor für den Tempel gewonnen wird. Kein Tempel ohne Steinbruch; keine Geschichte ohne Stoff. Die Geschichte ist das Endprodukt des Schreibprozesses, wie der Tempel das Endprodukt des Bauprozesses ist. Am Anfang des Schreibprozesses steht der Stoff, am Ende des Schreibprozesses steht die Geschichte. Der Schreibprozesses schafft die Geschichte erst. Der Schreibprozesses ist die Umwandlung eines Stoffes in eine Geschichte.
Einschränkend muss gesagt werden, dass dies natürlich nur für den Fall gilt, dass das Endprodukt auch tatsächlich eine Geschichte ergibt, was keineswegs selbstverständlich ist. Denn nicht alles, was gebaut wird, ist ein Tempel. Und nicht alles, was erzählt wird, ist eine Geschichte. Eine Geschichte ist ein Sonderfall des Erzählens. Wenn man aber – wie der Autor des Zitats dies tut – einen Stoff schon für eine Geschichte hält, die irgendwo „aufgehängt“ werden kann, dann wird man am Ende seines Schreibprozesses auch gar keine Geschichte haben, sondern bestenfalls einen logisch geordneten Stoff, was aber etwas völlig anderes ist als eine Geschichte.

Irrtum # 5

„Warum ist es so wichtig, ein Treatment zu schreiben? Wenn Sie selbst Ihre Geschichte nicht kennen, wer dann?!“
– Syd Field
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WOP: Niemand kennt Ihre Geschichte, bevor sie nicht zu Ende geschrieben ist, auch Sie selbst nicht! Es ist eines der grundlegenden Missverständnisse beim Drehbuchschreiben, zu glauben, der Autor würde sich eine Geschichte ausdenken, die er dann aufschreibt. Eine Geschichte steht nicht am Anfang des Schreibprozesses, sondern an seinem Ende. Sie ist sein Resultat. Eine Geschichte ist das Ergebnis all der Arbeitsschritte, die Sie tun, um eine Geschichte zu entwickeln. Am Anfang des Prozesses steht nicht eine Geschichte, sondern ein Stoff. Die Autorentätigkeit besteht in der Verwandlung dieses Stoffes in eine Geschichte.

Irrtum # 4

„Als erstes gliedern und strukturieren Sie Ihren Stoff – die Handlung und die Figuren.“
– Syd Field
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WOP: Nein! Bloß nicht!
Als erstes bestimmen Sie Ihren Erzählzweck. Danach legen Sie Ihre Erzählstrategie fest, das heisst, den Weg, auf dem Sie glauben Ihren Erzählzweck realisieren zu können. Sie bestimmen also zuerst das WAS Ihres Erzählens und danach entscheiden Sie sich für ein WIE. Das kann auch gar nicht anders sein; denn es gibt kein Wie ohne ein Was.

Irrtum # 3

„Ein Plot Point kann alles mögliche sein: Ein Schuss, eine Rede, eine Szene, eine Sequenz, eine Handlung – alles, was die Handlung vorantreibt.“
Syd Field
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WOP: Nein, ein Punkt kann nicht „alles mögliche“ sein. Ein Punkt kann zum Beispiel keine Linie sein. „Eine Rede, eine Szene, eine Sequenz, eine Handlung“ aber sind Linien. Ein Punkt ist ein Punkt, immer! Ein Punkt ist nie eine Linie! Als Phänomen des Raumes auf die Zeit übertragen, ist der Punkt ein Moment, ein Augenblick. Der Punkt im Raum ist keine Linie und der Augenblick ist kein Verlauf.

Wenn ein Plot Point etwas ist, „was die Handlung voran treibt“, dann ist jeder einzelne Moment einer Handlung ein Plot Point. Denn es ist das Wesen der Handlung, dass sie dynamisch ist, also nach vorne strebt. Handlung – in der Definition von: ein von Menschen ausgeführter oder durchlebter Prozess – steht niemals still.

Was von der Dramaturgie als „Plot Point“ wahr genommen wird, ist etwas anderes. Poetologisch bezeichnet der Begriff „Plot Point“ ein Ereignis innerhalb der Erzähllinie, das eine Wende im Erlebensprozess des Zuschauers erzeugt. Wegen dieser Erlebenswende wird der Plot Point auch Turning Point (Wendepunkt) genannt. Das betreffende Ereignis wendet die Anteilnahme des Zuschauers in eine neue Richtung.

Irrtum # 2

„Das ist der Ausgangspunkt! Das Thema, der Stoff!“
– Syd Field
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WOP: In dieser Aussage zeigt sich eines der zentralen Probleme der Filmdramaturgie, nämlich eine völlige Verwirrung in der Begrifflichkeit. Es ist geradezu kennzeichnend, dass in der dramaturgischen Literatur systematisch die Begriffe Stoff und Thema entweder verwechselt oder aber gleich gesetzt werden. Stoff und Thema sind aber nicht nur verschiedene Dinge, sie sind in ihrem Wesen sogar gegensätzliche Dinge. Stoff ist stofflich, also materiell; Thema ist immateriell, somit geistig. Etwas Materielles kann nicht zugleich etwas Immaterielles sein. Poetologisch betrachtet ist das Verhältnis von Materiellem und Immateriellen konstituierend für die Erlebensqualität eines Films. Thema und Stoff gleichzusetzen bedeutet, dass man nicht verstanden hat, was FILM ist.

Irrtum # 1

„Ein Drehbuch wird definiert als Geschichte, die mit Bildern, Dialogen und beschreibenden Passagen in einer dramatischen Struktur erzählt wird.“
– Syd Field
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WOP: Ein Drehbuch wird überhaupt nicht definiert als eine Geschichte. Ein Drehbuch erzählt nur ausnahmsweise eine Geschichte, nämlich dann, wenn es eine Geschichte erzählt. Wenn das Drehbuch keine Geschichte erzählt, dann kann es sich bei dem Drehbuch auch nicht um eine Geschichte handeln. Ein Drehbuch zu einem Lehrfilm beispielsweise wird in aller Regel keine Geschichte erzählen; trotzdem ist es ein Drehbuch. In einem Drehbuch steht, was gedreht werden soll, auch dann, wenn es sich bei dem zu Drehenden nicht um eine Geschichte handelt. Mit dem Begriff „Geschichte“ wird in der Dramaturgie – wie mit anderen Begriffen auch – äußerst fahrlässig umgegangen. Keineswegs ist alles, was zu Film verarbeitet wird, eine Geschichte. Tatsächlich ist das allerwenigste, was als Film daher kommt, eine Geschichte. Auch nicht alles, was fiktional ist, ist eine Geschichte. Geschichten erzählen ist ein Sonderfall das Erzählens. Damit bei etwas Erzähltem von einer „Geschichte“ gesprochen werden kann, müssen ganz bestimmte Gegebenheiten vorhanden sein. Ist dies nicht der Fall, kann auch nicht von einer Geschichte gesprochen werden. Insofern ist es Unsinn, ein Drehbuch als Geschichte zu definieren. Wird es trotzdem getan, entsteht der Eindruck, dass es der Dramaturgie sowohl an Differenzierungsvermögen wie überhaupt an einem grundlegenden Verständnis der Sache mangelt, die sie als ihren Gegenstand sieht.