Braunau am Inn

Ein kleiner Kurzfilm, von Studenten der Filmakademie Ludwigsburg hergestellt, ist in Windeseile durch das Internet gefegt und hat allseits Aufmerksamkeit erregt.

 

Versuch einer Erklärung:

Was an dem Film vor allem anderen auffällt, was seine Besonderheit ausmacht, ist die überraschende Präsentation einer Idee am Ende des Films. Der Film existiert um dieser Idee willen. Die Idee ist das, woraufhin der Film angelegt ist. Sie wird am Ende des Films explizit formuliert und lautet: „Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen.“

Diese Idee kann im Kontext des Films auf zweierlei Weise gelesen werden: einmal als allgemeines Statement – politisch oder nicht -, zweitens als Hinweis auf die historische Verstrickung von Mercedes-Benz mit dem Nationalsozialismus. Doch das ist hier, in unserem Zusammenhang nicht wichtig. Beide Aussagen sind meines Erachtens in Ordnung. Mir scheint aber auch ein anderer Aspekt des Erfolgs interessant: dass nämlich die Freude über den Spot – oder ein Teil von ihr – darin begründet sein könnte, dass eine diffuse antifaschistische Haltung hier einen gültigen ästhetischen Ausdruck gefunden zu haben scheint. Der Film hat ein Element von Befreiung aus einer Art existentieller Hilflosigkeit. Aber das ist ein anderes Thema. Ich bin weder Ideologe noch Sozialpsychologe;  mir geht es um Fragen der Erzählweise, um Poetologie. Doch könnte es sein, dass das befreiende Element sich gerade aus der Erzählweise ergibt.

Zunächst einmal erfreut der Film dadurch, dass er überhaupt eine Idee hat. Er erfreut einen, weil das in Deutschland nicht die Regel ist, sondern die Ausnahme, obwohl es für das Erzählen die Regel sein sollte. Der Film ist also deshalb erfolgreich, weil er schlicht das tut, was von einem Film erwartet wird, oder zumindest erhofft: nämlich, dass er einem etwas sagt und nicht nur etwas zeigt.

Und das geht so: der Film führt den Zuschauer in zwei Gedankenschritten zu seiner Idee. Der erste Gedankenschritt besteht in der Paraphrase der bekannten Mercedes Werbung, in der Wiederkennung der Aussage des bekannten Mercedes-Clips : durch eine technische Innovation, mit der Fahrzeuge der Marke Mercedes ausgestattet sind, ist es möglich, schwer wiegende Unfälle zu vermeiden. In einem zweiten Gedankenschritt erkennt der Zuschauer, dass es vielleicht besser wäre, manche Unfälle stattfinden zu lassen. Der Film sagt: es wäre besser gewesen, wenn Mercedes für Hitler und die Nationalsozialisten nicht gebremst hätte. Oder so ähnlich.

Interessant in unserem Kontext ist nicht die Richtigkeit oder Falschheit der Aussage, auch nicht die Frage, wie klar oder unklar die Aussage ist, sondern erstens, dass überhaupt eine Art Aussage getroffen wird, was in deutschen Filmen eine Ausnahme darstellt, und wie zweitens diese Aussage erzeugt wird, nämlich durch gezielte Gedankenführung des Zuschauers. Das ist in der Methode vorbildlich und ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen.

Was den kleinen Film – für deutsche Verhältnisse – ungewöhnlich macht und ihn – im Vergleich zu anderen Studentenfilmen etwa – herausragen lässt, ist nicht die gelungene Nachahmung der Oberflächenästhetik des Originalspots, sondern dass der „Look“ hier ausnahmsweise einmal nicht der Zweck des Erzählens ist. Der ästhetische Stil ist hier einer anderen Absicht untergeordnet, das Erzählen verfolgt einen eigenen Zweck, das ist die Erkenntnis der Idee.

Das ist ein Fortschritt im deutschen Film; denn in der Regel präsentieren deutsche Filme keine Ideen. Dennoch muss ich eine kritische Einschränkung machen: die Art, wie die Idee präsentiert wird, bleibt intellektuell. Das ist ein Ergebnis der Erzählweise. Der Film präsentiert seine Idee nicht als Erfahrung, sondern als Erkenntnis. Das heisst, die Wirkung der Idee ist unterhalb dessen angesiedelt, was möglich gewesen wäre, wenn eine Geschichte erzählt worden wäre. Eine Geschichte ist, wie alle Poetologen unumstösslich wissen, das stärkste Mittel der Kommunikation, da das zentrale Wesensmerkmal, das unerlässliche Charakteristikum von Geschichten darin liegt, Ideen erfahrbar zu machen und dadurch subjektiv wahr.

Mit diesem Hinweis, so elementar er poetologisch auch ist, möchte ich den in Frage stehenden Film nicht kleiner reden, als er es verdienen mag. Aber wie wir wissen, ist der grösste Feind des Guten das Bessere. Und der beste Weg beim Filmemachen ist nun mal immer – weil der erlebensintensivste und überzeugendste -,  eine Geschichte zu erzählen.

Für einen langen Film würde die Geduld des Zuschauers für solche Erzählweise, wie in dem Clip praktiziert, nicht ausreichen. Bei einem Kurzfilm ist es aber – eben wegen seiner Kürze – möglich und zulässig, eine pointierte Erkenntnis durch andere erzählerische Mittel zu erzielen. Deshalb: Glückwunsch an die Jungen aus Ludwigsburg zu ihrem frechen Coup!

Epik, Lyrik, Drama

Bevor es Epik, Lyrik und Drama – also Erzählung, Gedicht und Geschichte – gegeben hat, gab es das Epische, das Lyrische und das Dramatische. Denn das Epische, das Lyrische und das Dramatische sind zunächst keine Kunstgattungen, sondern die Aggregatzustände unseres Bewusstseins. Der epische Zustand des Geistes richtet sich auf das Vergangene, der lyrische auf das Anwesende und der dramatische auf das Kommende. Die Kunstgattungen zielen jeweils auf den betreffenden Geisteszustand ihres Publikums.

Drehbuch schreiben ist einfach

Drehbuch schreiben ist einfach. Es ist etwa so einfach wie Schuhe putzen. Alles, was man beim Drehbuch schreiben zu tun hat, ist aufzuschreiben, was zu sehen sein soll und was zu hören sein soll und dies in der Reihenfolge, in der es später im Film erscheinen soll. Das ist keine Kunst!

Etwas anders liegt der Fall, wenn es sich bei dem Drehbuch, das man schreibt, um ein gutes Drehbuch handeln soll. Für ein gutes Drehbuch ist es zwingend, dass das, was aufgeschrieben wird, auch geeignet ist, ein gutes Drehbuch zu ergeben. Nun stehen wir aber vor der Frage: was ist denn überhaupt ein gutes Drehbuch? Die Antwort lautet: das hängt davon ab.

Auszug aus meinem Buch:
Ästhetik des Zwischenraums – Grundzüge einer Poetologie des Drehbuchschreibens.
Erscheint im Frühjahr 2014.