Altes Testament

„Lieber Wolfgang,

inzwischen habe ich auch Deine Abhandlung* gelesen. Sie ist zum Staunen und andächtig Innehalten. Es ist „die Stimme eines Predigers in der Wüste“, die Essenz dessen, was Du uns über die Jahre hinweg versucht hast zu zeigen. Ich habe den Text auf einmal gelesen und war keinen Moment gelangweilt. „Die Poetologie beschäftigt sich mit der Heldenreise des Zuschauers.“ Ich musste dabei an die Geschichten aus der Bibel denken. Kain und Abel, Daniel in der Löwengrube, Judith und Holofernes. Doch funktionieren die meisten Geschichten auch ohne göttlichen Überbau. Es ist das Geheimnis des magischen Erzählens, das Du offen legst.

Vielen Dank, dass Du uns teilhaben läßt.

Liebe Grüße,

Jo“

* Wolf Otto Pfeiffer:
BIGGER THAN LIFE – Grundzüge einer Poetologie des Films.
93 Seiten
FILMGEIST Verlag Berlin
Kostenloser PDF-Download auf http://www.filmgeist.org

Ein Gedanke zu “Altes Testament

  1. Wer die Erzählung von Kain und Abel nur gemütsmässig-sinnlich auffasst und das darin enthaltene Wissen um die Differenzierung in zwei Menschenseelenformen (der nomadischen Hirten und der sesshaften Ackerbauern), die in der Kulturgeschichte bis heute wirksam blieb, nicht geisteswissenschaftlich aufschliessen kann, dem wird sie zu einer Geschichte mit verzichtbarem „göttlichen Überbau“, worunter er sich dennoch nichts Wirkliches wird vorstellen können.

    Den Zwiespalt von Kain und Abel und den ersten, missglückten Versuch der Versöhnung durch den kainitischen Bauherrn Hieram, der für den (Abelsohn) Salomo den Tempel baute, habe ich im dritten Band meiner Witzenmann-Dokumentation beschrieben. – Die Tempellegende ist die zentrale Mythe aller Freimaurer. Sie verstehen sich als Kainiten und betonen damit ihren Gegensatz zur (abelitischen) Priesterschaft. Beide sind, was die Versöhnung betrifft, unwissende Festlegungsformen. Der im klaren Erkenntnisbewusstsein beobachtete Gegensatz der platonischen (Abel) zur aristotelischen (Kain) Philosophie ist die Voraussetzung ihrer Vereinigung, der zentralen Kulturaufgabe unserer Tage (näheres in meiner erwähnten Schrift).

    Der gedankenkünstlerische Meister dieser Versöhnung ist Herbert Witzenmann. Sein diesbezügliches Vermächtnis: „Goethes universalästhetischer Impuls – die Vereinigung der platonischen und aristotelischen Geistesströmung“. – Als hervorragender, keimhafter Einstieg empfehle ich seine Einleitung in das sozialästhetische Studienjahr 1985 N° 202 der digitalen Texte. http://www.das-seminar.ch/rapidcart-2/

    herzlich grüsst, RAS

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